Heimatvereine setzen im Raum Lintel/Druffel Tradition ihrer Schnatgänge fort
Von Grenzüberschreitungen der erlaubten Art
Rheda-Wiedenbrück (eph). Die Schnat – auch Schnad oder Schnade – ist ein altdeutscher Begriff für die Grenze einer Gemarkung. In früheren Jahrhunderten zogen Menschen in regelmäßigen Abständen – nicht selten sogar – bewaffnet vor die Tore ihrer Städte, um Verlauf und Markierung der Orts- und Landesgrenzen zu kontrollieren. Diese Tradition der Schnatgänge haben die beiden Heimatvereine Rheda und Wiedenbrück-Reckenberg vor geraumer Zeit neu belebt. Seitdem ziehen heimatkundlich interessierte Menschen Jahr für Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr in das Umfeld der Stadt, um mehr über Geschichte und Gegenwart der kommunalen Grenzen zu erfahren.
Nach coronabedingter dreijähriger Zwangspause war in diesem Jahr wieder ein Schnatgang möglich. Bei der Organisation lösen sich die beiden Vereine ein ums andere Jahr ab. Diesmal schlüpften die Wiedenbrücker in die Veranstalterrolle. Als Zielgebiet auserkoren hatten sie die Grenzregion Lintel/Druffel. Schriftführer und Kartenspezialist Martin Brockhinke und die Zweite Vorsitzende Sigrid Theen hatten die rund sieben Kilometer lange Wanderstrecke zuvor erkundet und historisch bedeutsame Punkte ausgemacht. Begleitet worden waren sie dabei von Heimatfreund Dieter Heimann, der als passionierter Jäger mit der Natur und den Hofstellen bestens vertraut ist und sich so bei mehreren Bauernhöfen buchstäblich als Türöffner betätigen konnte.
Startpunkt des diesjährigen Schnatgangs war der Linteler Landgasthof Pöppelbaum. Knapp 40 Teilnehmer, darunter auch etliche Mitglieder der Heimatvereine Rheda und Langenberg, zählte Wiedenbrücks Vorsitzender Wilhelm Sprang bei seiner Begrüßung. Aus der Gruppe der zumeist älteren Schnatgänger jenseits von 60 Jahren stach ein jüngeres Gesicht hervor: Vera Goesmann, 28-jährige Studentin der Landschaftsarchitektur aus Rietberg, hatte in der Zeitung von der Wanderung gelesen und sich danach zusammen mit ihrer Mutter Dagmar unter die Teilnehmer gemischt. „Mich interessiert, wie sich die heimische Landschaft im Laufe der Jahrhunderte verändert hat“, lässt sich die Studentin der TU Berlin über ihre Motivation entlocken.
Auf einem vermeintlichen Trampelpfad – Dieter Heimann: „Das ist kein Spazierweg, das ist ein Wildwechsel“ – ging es danach über die alte Grenze zwischen der Grafschaft Rietberg und dem Amt Wiedenbrück-Reckenberg zur Hofstelle Himmeldirk in Druffel, wo der Torbogen aus dem Jahr 1774 zu bestaunen war und der ehemalige Grenzstein 27 einen Ehrenplatz im Vorgarten gefunden hat. „Die Grenzsteine aus Ibbenbürener Sandstein kamen – wie alte Rechnungen von 1774 nachweisen – allesamt aus der Werkstatt des Bielefelder Steinmetzes Neipert“, wusste Martin Brockhinke zu berichten.
Über die Straße „Zur Flammenmühle“ gelangten die Schnatgänger zum Gut Clarenhof. Der stattliche Hof war einst Meyer-Hof oder „Curia“ der Linteler Unterbauerschaft Kodinghausen. Seine Existenz lässt sich bis auf das Jahr 1236 nachweisen. Im 16. Jahrhundert erfolgte eine Dreiteilung des Besitzes. So entstanden die späteren Höfe „Peter-Meyer“ (heute: Peitzmeier) und „Arends-Meyer“ (heute Hof Vogelsang).
Bewohnt wird der „Clarenhof“ heute von drei Generationen der Familie Kochjohann. Senior Norbert Kochjohann, wie Dieter Heimann passionierter Jäger, erwies sich bei der Ankunft der Wandergruppe als guter Gastgeber. Gerne öffnete er für die Schnatgänger Tür und Tor. So durften die Teilnehmer die ebenso stattliche wie urgemütlich eingerichtete Bauernküche mitsamt ihrer imposanten holzbeheizten Kochmaschine in Augenschein nehmen.
Seinen Namen erhielt der „Clarenhof“ von der aus Lippstadt stammenden Gattin Clara des ehemaligen Wiedenbrücker Landrats Dr. Ernst Osterrath. Sigrid Theen: „Als Osterrath 1882 seinen Dienst im Landkreis Wiedenbrück antrat, musste er sich zur Vorbeugung von Korruption von seinem eigenen Geld Grundbesitz zulegen. Osterrath erwarb den Haupthof Kodinghausen und benannte ihn nach seiner Frau, einer geborenen Cosack vom Lippstädter Gut Menzelfelde.“ Interessant: Sein privates Domizil bezog Osterrath, der später nach Göttingen wechselte, nicht in Lintel, sondern zunächst im Haus der ehemaligen Gaststätte Petermann an der heutigen Bielefelder Straße. Später zog er in seine im neugotischen Stil erbaute Dienstvilla nahe der Ems, die wegen ihrer vielen Türmchen im Volksmund „Burg“ genannt wurde.
Am Standort des ehemaligen Grenzsteins 29 ging es in Sichtweite des Wäldchens „Mühlenwinkel“ weiter auf dem schon im Mittelalter nachweisbaren alten Peitzmeierweg zur gleichnamigen heutigen Hofstelle. Bis vor etwa 200 Jahren verlief hier die kürzeste Wegeverbindung zwischen den beiden Orten Wiedenbrück und Rietberg. Untrennbar verbunden ist der Hof mit dem Namen des 1917 zum Preußischen Ökonomierat ernannten Professors Heinrich Peitzmeier. Im Jahr 1863 vom Erbe des Hofes ausgeschlossen, entschied er sich für ein Studium der Theologie und Biologie, um später dennoch den 240 Morgen großen Hof zu übernehmen und zu bewirtschaften. Einen Namen machte sich Peitzmeier unter anderem als Entwickler neuer Düngeformen und Gründer der Westfälischen Herdbuchgesellschaft für Milchviehzüchter. Nach Peitzmeiers Tod stiftete der damalige NRW-Landwirtschaftsminister und spätere Bundespräsident Heinrich Lübke eine nach Peitzmeier benannte Ehrenplakette. Auch eine Straße im Zentrum der Stadt Hamm trägt noch heute den Namen des gebürtigen Lintelers, dessen 1897 geborener Sohn Joseph ebenfalls Bekanntheit über die Region hinaus erlangte. Aus der Feder des Theologen, Pädagogen und Ornithologen stammt beispielsweise das Buch „Avifauna von Westfalen“. Dieter Heimann: „Es gilt als Standardwerk über die heimische Vogelwelt.“
Nur einen Steinwurf entfernt – vis à vis der Straße Peitzmeierweg – liegt der ehemalige Hof Arendsmeier, den heute Stefan und Norbert Vogelsang bewirtschaften. Beim Melken ihrer 180 Milchkühe kommt neueste Robotertechnik des 21. Jahrhunderts zum Einsatz, wie die Schnatgänger erfuhren. So spannte sich um die Schnatwanderung 2022 ein gut und gerne 800 Jahre alter thematischer Bogen von mittelalterlichen Wegen und ersten urkundlichen Erwähnungen im 13. Jahrhundert bis hinein in die Jetztzeit.
Überaus angetan von dem Gesehenen und Erlebten zeigte sich beim abschließenden Imbiss der Langenberger Heimatvereinsvorsitzende Leo Meier-Langenberg: „Das ist eine interessante Veranstaltungsform. Wir in Langenberg werden die Idee aufgreifen und zu gegebener Zeit bei Frost zu einer Feld- und Wiesenwanderung einladen.“ Und auch Uwe Finken, Zweiter Vorsitzender des Heimatvereins Rheda, sprach in seinen Dankesworten eine Einladung an alle Teilnehmer aus. Finken: „Auch wir in Rheda werden im kommenden Jahr wieder bis an unsere Grenzen wandern.“