Artikel aus »Die Glocke« von Rainer Stephan (Dezember 2021)
Fast ein halbes Jahrhundert ist es jetzt her, dass die sogenannte Wiedenbrücker Burg abgerissen wurde und dem Neubau der Osterrath-Realschule Platz machen musste. Die „Burg“ war keine Burg im klassischen historischen Sinne. Vielmehr handelte es sich bei der Anlage um ein Pflege- und Schwesternheim des Ordens „Schwestern der Christlichen Liebe“, dessen Mutterhaus sich im nahen Paderborn befand. An die 68-jährige Geschichte des St. Joseph-Hauses Wiedenbrück – so der offizielle Name für die Burg – erinnern heute noch die Straßenbezeichnung „Burgweg“ und die Namensgebung für das dortige Schulzentrum.
Zudem gibt es in der Stadt mindestens drei mehr oder weniger bekannte Relikte aus der Wiedenbrücker „Burgenzeit“: Das ehemalige Eisentor, das einen neuen Platz am Heimatmuseum gefunden hat, einen Herold aus Sandstein, der seit vielen Jahren den Eingangsbereich des Ratskellers bewacht, und schließlich der Friedhof der Schwestern der Christlichen Liebe. Die letzte Ruhestätte von einigen Hundert Ordensschwestern und Bediensteten des ehemaligen St. Joseph-Hauses liegt – von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet – etwas abseits vom Burgweg in direkter Nachbarschaft zum Schulhof der Osterrath-Realschule.
Vor fast einem halben Jahrhundert, nach dem Weggang der Ordensschwestern im Jahr 1972, ist der Friedhof in eine Art Dornröschenschlaf gefallen. Aus dem will ihn der Heimatverein Wiedenbrück-Reckenberg jetzt erwecken. Eine Infotafel, an einem Pfeiler des schmiedeeisernen Eingangstores angebracht, soll an das ehemalige St. Joseph-Haus erinnern. „Die Zeit des Ordens war ein wichtiges Kapitel der Stadtgeschichte. Sie ging im Prinzip bis zum Jahr 2020, als die letzte Ordensschwester aus der Leitung des Burgkindergartens ausgeschieden ist. Das wollen wir wieder mehr ins öffentliche Bewusstsein rücken“, begründet Heimatvereinsvorsitzender Dr. Wilhelm Sprang die Initiative.
Dazu hat der Verein Kontakt zu Regionaloberin Sr. Angelika Blochwitz in Paderborn aufgenommen. In einer Grußbotschaft an den Heimatverein schrieb sie: „Dass Heimatverein und Stadt die Schwestern und den alten Friedhof als Geschichte der Stadt im Gedächtnis behalten wollen, ehrt und freut uns.“ Gemeinsam verständigte man sich auf einen Erklärtext für die Tafel. Außerdem stellte der Orden zur Illustration zwei historische Abbildungen zur Verfügung: Ein Schwarz-Weiß-Luftbild von der gesamten „Burg-Anlage“, die einst bis zum Ufer der Ems reichte, und eine Farbaufnahme vom Friedhof, auf der noch die ehemalige Kapelle am Ende der Grabreihen zu sehen ist.
Seit diesem Jahr befindet sich die Grabanlage in der Obhut der Stadt Rheda-Wiedenbrück. Auch wenn es sich bei dem Friedhof nicht um ein eingetragenes Denkmal handelt, kümmert sich seitdem verwaltungstechnisch Rathausmitarbeiter Klaus Landwehr von der Unteren Denkmalbehörde um den Ort, der einen insgesamt gepflegten Eindruck macht. Dennoch müssen jetzt aus Gründen der Verkehrssicherheit Gehölzarbeiten vorgenommen werden. Ebenso sind Ausbesserungen an der vorhandenen Steinmauer und den beiden Eingangspfosten vorzunehmen. Nach deren Beendigung soll die Infotafel fest installiert werden.
Wer den Text der Tafel liest, erfährt, dass die Schwestern der Christlichen Liebe im Jahr 1904 die 1890 erbaute neogotische Villa des damaligen Wiedenbrücker Landrats Dr. Ernst Osterrath käuflich erwarben. Die wegen ihrer Türmchen und dem historisierenden Dekor im Volksmund „Burg“ genannte Villa wurde danach durch Erweiterungsbauten zu einem großen Pflege- und Schwesternheim ausgebaut. Zum 25-jährigen Bestehen des St. Joseph-Hauses hieß es im Jahr 1929 in einem Zeitungsbericht: „Die Schwestern von der ‚Burg‘ haben bald das Wohlwollen der Stadt und ihrer Umgebung gewonnen. Durch ihre Bescheidenheit und Arbeitsamkeit erbauen sie die Menschen und durch ihr stilles Beten und Dulden ziehen sie sicherlich viel Segen herab auf die Gemeinde, in der sie ein so trautes Heim gefunden haben.“ Der Hauptzweck der Niederlassung bestand nach dem Bericht darin, kranken und altersschwachen Schwestern eine Pflegestätte und vom anstrengenden Schul- oder Krankendienst ermüdeten Schwestern eine schöne Erholungsstätte zu bieten.
Darüber hinaus diente das Haus schon früh sozial-karitativen Zwecken. So wurden hier junge Mädchen nach dem Ende der Schulzeit zu verschiedenen Arbeiten des Haushalts und des Gartenbaus angeleitet. Wörtlich heißt es dazu im Jubiläumstext von 1929: „Viele junge Mädchen sind in der Zeit durch die ‚Burg‘ gegangen. Sie haben schöne lehrreiche Jahre dort verlebt, zugleich auch die treue Obsorge der guten Schwestern, geschützt vor manchen Gefahren der Jugend in der heutigen Zeit.“ Der Chronist berichtet ferner davon, dass die Zahl der Mädchen von Jahr zu Jahr zugenommen habe. Zuletzt hätten 80 Mädchen an fünf Tagen in der Woche Unterricht im Zuschneiden, Nähen, Kunststricken, Stopfen, Flicken und dergleichen Arbeiten erhalten. Es habe ein „regsamer und dabei fröhlicher Geist in dem Nähsaale“ geherrscht.
Zur selben Zeit bereiteten sich weitere 81 Mädchen im so genannten Juvenat der Genossenschaft auf ein zukünftiges Ordensleben vor. Tagsüber besuchten sie die örtliche Mädchen-Rektoratsschule, die zwei Jahre zuvor von den Schwestern übernommen worden war. „Man kann diesen Kindern Glück wünschen“, schreibt der Chronist, „dass sie hier, unberührt von dem verderblichen Einfluss der Welt, sich dem Studium und einer gediegenen Frömmigkeit widmen können.“ Durch das Juvenat, heißt es weiter, habe die Mädchen-Rektoratsschule in Wiedenbrück in jeder Hinsicht viel gewonnen. Daran werde wohl kein unparteiischer Beobachter zweifeln können.
Das Josephskloster selbst zählte im Jubiläumsjahr 90 Schwestern. „Siebzigjährige, Achtzigjährige, selbst eine Einundneunzigjährige treffen wir an – körperlich etwas gebückt von der Last der Jahre, aber geistig in seltener Frische“, berichtet die Zeitung. Und weiter: „Täglich sitzt sie noch an ihrem Maltisch und zeichnet und skizziert. Sie ist ein lebendiger Beweis dafür, dass Klosterleute keineswegs zu früherem Tod verurteilt sein müssen. Und wenn eine früh sterben muss – ob sie in der Welt länger gelebt hätte?“, fragt der Schreiber seine Leser und deutet damit an, dass die Welt hinter den Klostermauern womöglich eine vollkommen andere ist. Eines ist indessen gewiss: Der Ort, an dem die Bewohnerinnen des St. Joseph-Hauses bestattet wurden, ist nicht derselbe, in dem die übrige Bewohnerschaft der Stadt ihre letzte Ruhe in der Erde gefunden hat.
Text und Fotos: Rainer Stephan